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Über den Roman

(Ein Essay von Bodo Gaßmann: Versuch einer Apologie des Romans
am Beispiel von Arno Kaisers „Fieber“ und anderer Romane)

Kritik der hegelschen Ästhetik

Das entscheidende Argument gegen Hegels Ästhetik hat bereits der junge Marx vorgebracht, ohne sich direkt auf die „Ästhetik“ zu beziehen. Die Philosophie hat es mit dem Allgemeinen zu tun, sie bewegt sich im Medium des Prinzipiellen. Davon kann man entgegen der heutigen Verachtung der Philosophie nicht groß genug denken. Aber abgesehen von Hegels idealistischer Konstruktion der sozialen Wirklichkeit, der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staates, ist der Standpunkt des Allgemeinen, der philosophischen Durchdringung der Wirklichkeit auch prinzipiell beschränkt. Selbst eine wahre Deutung des Seienden bleibt restringiert auf das Allgemeine; es verwundert dann nicht, wenn die Verabsolutierung des als wahr erkannten Allgemeinen das Empirische, das Singuläre, das Besondere nur als Exempel der Idee ansehen kann. Das aber muss zwangsläufig zu falschen Deutungen der Realität führen. So sagt Marx über die hegelsche Rechtsphilosophie: „Hegel gibt seiner Logik einen politischen Körper; er gibt nicht die Logik des politischen Körpers (§ 287).“ (MEW 1, S. 216) Das aber ist falsches (idealistisches) Denken. Denn am Empirischen, am Material des Spekulativen, am Besonderen geht „die eigentliche Entwicklung vor sich“ (a. a. O., S. 206). Die Philosophie kann empirische Wirklichkeit nur aufnehmen, wie sie ist, sie kann ihre Vernunft und Unvernunft herausarbeiten und im Medium des Allgemeinen, des Begriffs und der Idee, reflektieren. Aber was diese empirische Wirklichkeit ist, kann sie nicht aus der Idee heraus konstruieren, auch wenn die systematische Darstellung da, wo die Wirklichkeit sich systematisieren lässt, dann erscheint, als wäre sie aus der Idee konstruiert. Ist dem aber so, dann tut sich hier ein Feld des Wirklichen auf, das auch in der Kunst und im Roman beackert werden sollte und wird. Die Kunst hat also ihre genuine Berechtigung gegenüber der Wissenschaft und Philosophie, ohne deshalb mit ihr zu konkurrieren. Insofern Kunst (und insofern auch der Roman) das Besondere ins allgemeine Bewusstsein hebt, Erfahrungen mit der Wirklichkeit darstellt, das Konkrete von der Pseudokonkretheit scheidet, hat sie ihr berechtigtes Betätigungsfeld und kann sich gegen Hegels Verdikt, sie sei nicht mehr vom höchsten Interesse für den Geist, mit Recht wehren. Im Extremfall sind die Künstler Seismografen gesellschaftlicher Veränderungen, bevor diese begrifflich fassbar sind.


Zur Ästhetik des Hässlichen

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass ein Hegelschüler, Karl Rosenkranz, nach Hegels Ästhetik des Schönen eine „Ästhetik des Häßlichen“ geschrieben hat. Rosenkranz geht direkt von den Erfahrungen aus: das ungeheure Elend des Proletariats, die Hungersnöte und der Zwang zur Auswanderung, Revolutionen und ihre Niederschlagung. Rosenkranz unterscheidet die gesunde Weise des Wohlgefallens am Hässlichen - wenn „das Häßliche in die Totalität eines Kunstwerks sich als eine relative Notwendigkeit rechtfertigt und durch die Gegenwirkung des Schönen aufgehoben wird“ – von der krankhaften Weise des Wohlgefallens am Hässlichen.
„Auf krankhafte Weise, wenn ein Zeitalter physisch und moralisch verderbt ist, für die Erfassung des wahrhaft, aber einfachen Schönen der Kraft entbehrt und noch in der Kunst das Pikante der frivolen Korruption genießen will. Ein solches Zeitalter liebt die gemischten Empfindungen, die einen Widerspruch zum Inhalt haben. Um die abgestumpften Nerven aufzukitzeln, wird das Unerhörteste, Disparateste und Widrigste zusammengebracht. Die Zerrissenheit der Geister weidet sich an dem Häßlichen, weil es für sie gleichsam das Ideal ihrer negativen Zustände wird. Tierhetzen, Gladiatorenspiele, lüsterne Symplegmen, Karikaturen, sinnlich verweichlichende Melodien, kolossale Instrumentierung, in der Literatur eine Poesie von Kot und Blut (de boue et de sang, wie Marmier sagte) sind solchen Perioden eigen.“ (Ästhetik des Häßlichen, S. 56)
Diese „krankhafte Weise“ des Wohlgefallens am Hässlichen ist jedoch die Weise, in der die großen Gesellschaftsromane die bürgerliche Gesellschaft darstellen, gemildert durch ein Minimum an schöner Form, ohne die auch das Hässliche nicht zu rezipieren wäre. Man kann diese Form als affirmatives Moment jeglicher Kunst beklagen, wie Herbert Marcuse es gemacht hat, umgehen kann man es nicht, will man nicht ganz verstummen. Selbst die Kritik am Affirmativen der Kunst benutzt rhetorische Mittel, also Elemente der Schönheit.
Dennoch ist das Kunst- und Schönheitsideal der Kunstperiode und der klassischen deutschen Philosophie für Rosenkranz der Maßstab für das Hässliche. „Das Schöne ist die positive Bedingung seiner Existenz“ (a. a. O., S. 15), das Hässliche ist das „Negativschöne“ (ebd.). „Das Schöne ist also, wie das Gute, ein Absolutes, und das Häßliche, wie das Böse, ein Relatives.“ (S. 16) Das ergibt sich nicht nur daraus, dass hässlich das Gegenteil von schön ist, als dessen Folie immer mitgedacht wird, sondern dass das Schöne ein Vernunftbegriff ist, während das Hässliche immer einem Empirischen anhaftet. Mit Hegel bestimmt Rosenkranz das Schöne als „sinnliches Scheinen der Idee“ (S. 69). Oder sich auf Kant beziehend: „Schön ist, sagt Kant mit Recht, was ohne Interesse allgemein gefällt.“ (S. 104)  „Das Schöne ist die Idee, wie sie im Element des Sinnlichen als die freie Gestaltung einer harmonischen Totalität sich auswirkt.“ (S. 18) „Das Schöne überhaupt ist (…) die sinnliche Erscheinung der natürlichen und geistigen Freiheit in harmonischer Totalität (…) es muß sich als Einheit in sich setzen und seine Unterschiede als organische Momente derselben.“ (S. 57) Dagegen ist das Hässliche formal bestimmt durch das Amorphe, die Asymmetrie und die Disharmonie, inhaltlich ist es unter anderem das Ekelhafte, Böse, Widersprüchliche und Zufällige.
Rosenkranz argumentiert noch auf dem Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft und will kunstimmanent das Hässliche bekämpfen durch das „Komische“, indem das Hässliche der Lächerlichkeit preisgegeben wird und derart mit dem Schönen wieder versöhnt wird.
„In dieser Versöhnung entsteht eine unendliche Heiterkeit, die uns zum Lächeln, zum Lachen erregt. Das Häßliche befreit sich in dieser Bewegung von seiner hybriden, selbtischen Natur. Es gesteht seine Ohnmacht ein und wird komisch. Alles Komische begreift ein Moment in sich, welches sich gegen das reine, einfache Ideal negativ verhält; aber diese Negation wird in ihm zum Schein, zum Nichts heruntergesetzt. Das positive Ideal wird im Komischen anerkannt, weil und indem seine negative Erscheinung sich verflüchtigt.“ (S. 15)
Rosenkranz macht sein Kunstideal am Begriff der Nachahmung deutlich. Diese Mimesis ist keine bloße Kopie des Empirischen, sondern soll „durch Hingebung an dasselbe, durch exakte Nachbildung seiner Gestalt die ideale Form, das allgemeine Maß“ erkennen (S. 116). Wenn aber die gesellschaftliche Empirie keine ideale Form mehr impliziert, das allgemeine Maß lediglich im Bewusstsein des Künstlers oder Romanciers präsent ist, dann muss zwangläufig die Darstellung der bürgerlichen Welt nach diesem klassischen Ideal diese Wirklichkeit verklären, schönreden, verfälschen. Das weiter praktizierte klassische Kunstideal würde zur Täuschung, zum bloßen Schein, letztlich zum Kunstgewerbe – und verfiele damit selbst dem geistig Hässlichen (trotz eventueller formaler Schönheit). Ab einem Zeitpunkt der Erkenntnis dieser Wirklichkeit wird das klassische Kunstideal obsolet, hat nur noch rückschauend seine Bedeutung als enttäuschte Hoffnung einer Epoche.
Wenn Marx recht hat, dass die „eigentliche Entwicklung“ am Besonderen vor sich geht, dann stellt sich die Frage, ob die Erscheinungen des Hässlichen in der Gesellschaft, die auch ständig im Subtext von Rosenkranz präsent sind, nicht das Wesen der neuen kapitalistischen Gesellschaft (und später auch des monopolbürokratischen Kollektivismus als neuem Herrschaftsystem) ausmachen. Dieses Hässliche als Wesen der bürgerlichen  Gesellschaft lässt sich in der Romanliteratur aufzeigen. In den Jahren 1834/35, kurz nach Hegels Tod, erschien der Roman „Vater Goriot“ von Honoré de Balzac, ein Werk, das Hegels Affirmation der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staates diametral entgegen stand. Balzac versucht das Individuelle zu typisieren und das Typische zu individualisieren. Der Autor schildert eine korrupte Pariser Restaurationsgesellschaft, die allein vom Geld beherrscht wird. Man bildet sich ein, dass Reichtum bereits für Tugend gilt. Der Rentner Goriot lebt in einer Pension und unterstützt ständig seine zwei Töchter mit Geld, obwohl sie jeweils 5000 Francs Rente beziehen. Sie geben die Geldgeschenke für Schmuck, Garderobe und Bälle aus. Von dem Moment an, als der Vater Goriot kein Geld mehr hat, besuchen ihn seine beiden Töchter nicht mehr. Selbst als er auf dem Sterbelager liegt, verweigern sie die Erfüllung seines letzten Wunsches, sie noch einmal zu sehen, weil wieder ein großer Ball in Paris ansteht. Auf dem Todeslager schreit Vater Goriot vergeblich nach seinen beiden Engeln. Der Student Rastignac und der skrupellose Verbrecher Vautrin erlauben, einen Blick hinter die glänzende Fassade dieser Gesellschaft zu machen.
Solche Erfahrungen hat Hegel nicht mehr in seine Geschichtsphilosophie aufgenommen. Rosenkranz registriert sie zwar, zieht aber keine radikalen Konsequenzen daraus. Erst Marx und Engels (unter anderen) haben diese Erfahrung verallgemeinert, wenn sie schreiben:
„Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘.“ (MEW 4, S. 464)
Auch im Roman „Fieber“ kann man Hässliches und Schönes erkennen. Eine „änderungslose Gleichheit“ ist öde und hässlich (S. 73), so der Repressionsapparat des Herrschaftssystems des monopolbürokratischen Kollektivismus. Auf dieser Folie wirkt die Veränderung, die das erlebende Ich durchmacht, als schön. Wenn aber diese Veränderung wieder ins Formlose und Auflösende einer Verurteilung zu einem fünfjährigen Gefängnisaufenthalts umschlägt, so wirkt dies wieder hässlich. Insofern überwiegt in „Fieber“ die Negativität.

Das Zufällige an sich gehört eher zum Hässlichen. Es bezeugt die mangelnde Selbstbestimmung. Das erlebende Ich ist zum Spielball der hohen Politik geworden. Indem sich aber der Zufall - gerade jetzt wird ein Einigungsvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten abgeschlossen, gerade jetzt wird deshalb eine Amnestie verkündet - für den Protagonisten positiv auswirkt, er zu den 2000 gehört, die in den Westen abgeschoben werden, schlägt das an sich Hässliche, der Zufall, in das Schöne um, die Befreiung aus der Arbeitssklaverei des Gefängnissystems, eine Befreiung, die durchaus dem Willen des Protagonisten entspricht. Es bleibt aber festzuhalten: Das Hässliche des östlichen Systems bleibt vorerst bestehen, die Schönheit der Rettung ist nur eine individuelle, und selbst diese ist gebrochen durch die Umstände der Abschiebung und die ersten Erfahrungen im Aufnahmelager Gießen.

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